Winteräpfel

„Versteht Ihr denn nicht?“, sagt die fremde Frau bittend. „Ich muss zum Feldberg hinauf! Meinem Bruder will die Frau sterben.“

Sie zieht sich das Wolltuch enger um den Kopf und reibt sich fortwährend die blau gefrorenen Hände. Ihre schwere Reisetasche muss sie wohl schon durch das ganze Hinterdorf geschleppt haben. Valentin Maier steht vor seinem Hof in Menzenschwand, kurz vor dem Wasserfall, und hört der Frau schweigend zu. Sie behauptet, sie sei die Schwester des Pächters auf dem Feldberg oben, und wenn er jetzt ebenso wie die anderen Männer, die sie schon gefragt habe, den Kopf schüttle und im Stall oder in der Scheune verschwinde, sagt sie, werde sie den Weg hinauf alleine machen.

 Es ist der 25. Februar 1881. Vor sieben Tagen hat die Frau des Pächters Mayer droben auf dem Feldberg einen Sohn zur Welt gebracht. Jetzt liegt sie im Kindbettfieber. Valentin Maier ist der Waldhüter. Er weiß wie die anderen Männer hier, dass es in diesem Schneesturm ums Leben geht.

 „Versteht Ihr denn nicht?“, sagt die Frau noch einmal. Seit dem frühen Morgen sei sie unterwegs, erzählt sie, durchnässt und halb erfroren von der nicht enden wollenden Schlittenfahrt von Albbruck das Albtal hinauf, und nun sollen ihren Anstrengungen, dem Bruder beizustehen, hier in Menzenschwand, vor seiner Tür, enden?

 Dem Mayer vom Feldberger Hof will die Frau sterben! Diese Botschaft ist gestern schon einmal durchs Dorf gezogen, als der Knecht den Weg durch die Schneeverwehungen herunter gekommen ist, um beim Beckert im Vorderdorf ein Telegramm an Mayers Schwester in Basel aufzugeben. „Das Kind ist geboren. Die Frau hat das Fieber, ich bitte Dich, komm!“

 Zum Mayer auf den Feldberg hinauf, das geht nicht, will der Waldhüter eben noch sagen, und mit dem Fuhrwerk schon gar nicht. Da trifft ihn ihr Blick, und er weiß, diese Frau ist fest entschlossen, und wenn er nicht nachgibt, würden sie morgen eine Tote mehr durch das Dorf tragen.

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